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 Anna Miller mit Büchern in der Hand
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Digitale Balance

«Zum Spazieren bleibt das Smartphone daheim»

Hier noch rasch eine Mail beantworten, dort noch kurz ein Foto posten: Immer mehr Menschen haben das Gefühl, nicht mehr richtig abschalten zu können. Buchautorin Anna Miller erzählt, wie uns das wieder gelingt – und warum digitale Achtsamkeit so wichtig ist.

Hand aufs Herz: Wann haben Sie heute das erste Mal auf Ihr Smartphone geschaut?

Eine Dreiviertelstunde nach dem Aufstehen. In meinem Kopf schwirrte eine Frage herum, die ich nachschauen musste. Und so fängt es meistens an: man will nur kurz Whatsapp checken, die Mails, Instagram… schon ist man mittendrin! Deshalb rate ich, am Morgen mindestens eine Stunde zu warten, bis man zum Smartphone greift. Geniessen Sie einen Kaffee, räumen Sie die Küche auf, hören Sie Radio. Wenn ich ohne digitalen Stress in den Tag starte, verläuft der ganze Tag viel gelassener. Leider tappe ich trotzdem immer mal wieder in die Smartphone-Falle. Im Gegensatz zu früher bemerke ich es aber, wenn das passiert und kann entsprechend handeln. Zum Beispiel den Flugmodus einschalten oder eine Runde spazieren gehen. Darum geht es bei digitaler Achtsamkeit. 

 

Wann haben Sie gemerkt, dass Sie zu viel Zeit am Bildschirm verbringen? 

Das war ein schleichender Prozess:  Wir fühlen uns, als stünden wir permanent unter Strom, als könnten wir nicht mehr abschalten. Wir meinen, dass es uns einander näher bringt, wenn wir immer erreichbar sind. Dabei passiert genau das Gegenteil: Wir schaffen es nicht mehr, unserem Gegenüber unsere ungeteilte Aufmerksamkeit zu schenken. Immer lauert da schon die nächste Nachricht, das nächste To-do, der nächste Post. Ich sage nicht, dass das Digitale per se schlecht ist. Aber wenn wir keinen bewussten Umgang damit haben, verlieren wir uns darin.
 

 

5 Fakten zu unserem digitalen Konsum:

  1. Wir verbringen über 40 Prozent unserer Wachzeit im Internet.
  2. Wir scrollen täglich 173 Meter weit.
  3. 2,5 Stunden pro Tag verbringen Menschen weltweit durchschnittlich auf Social Media. Das sind fast 40 Tage pro Jahr!
  4. Die reine Präsenz eines Smartphones verringert unsere Konzentration um mehr als 30 Prozent. 
  5. Laut der Social-Media-Studie 2023 wünscht sich eine zunehmende Zahl an Schweizerinnen und Schweizern ab und an eine digitale Auszeit. 
     

 

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Sie schreiben in Ihrem Buch: «Weniger scrollen hiesse, mehr zu leben».

Ja! Wir tippen den ganzen Tag auf unseren Geräten herum und am Abend denken wir: Wo ist eigentlich die ganze Zeit hin?  Doch das ist die Krux: Das Smartphone gewinnt oft über einen kleinen Spaziergang draussen, über eine Stunde Malen oder im Chor singen. Dabei bräuchten wir diesen analogen Ausgleich ganz dringend. 

 

Warum können wir nicht einfach damit aufhören?

Weil es süchtig macht. Jedes Mal, wenn wir Instagram öffnen, eine Whatsapp-Nachricht lesen oder unsere Neugierde im Netz befriedigen, schüttet unser Körper Dopamin aus. Wir fühlen uns belebt und glücklich – und wir wollen mehr! Also greifen wir wieder und wieder zum Handy. Je öfter wir das tun, desto höher wird die Dosis, die wir brauchen, um den Kick zu spüren. Gleichzeitig kommt unser System kaum mehr zur Ruhe. Als soziales Wesen fürchten wir uns auch davor, etwas zu verpassen oder ausgeschlossen zu werden. Und so geraten wir immer tiefer in einen Teufelskreis, während unser System es nur schwer schafft, den Stress wieder abzubauen.

 

Was bedeutet das für unsere Gesundheit?

Ein erhöhtes Stresslevel kann Kopfschmerzen, Schlafstörungen oder ein Burnout verursachen, aber auch Depressionen oder Herz-Kreislauf-Probleme. Die digitale Welt macht definitiv etwas mit unserem Körper.

 

Wenn man seinen Smartphone-Konsum ändern möchte: Wo fängt man am besten an?

Indem man beispielsweise Digitales durch Analoges ersetzt: Besorgen Sie sich einen analogen Wecker, legen Sie sich eine Agenda aus Papier zu, suchen Sie sich Aktivitäten, die Sie ohne Smartphone machen. Ganz wichtig: Verbannen Sie das Smartphone aus dem Schlafzimmer! Und lesen Sie spätestens eine Stunde vor dem Einschlafen am Besten keine Nachrichten mehr. Verabreden Sie sich mit Freunden auf einen Kaffee, anstatt sich nur noch Sprachnachrichten zu schicken. Vereinbaren Sie, dass das Handy während der Verabredung in der Tasche bleibt. Schaffen Sie sich auch sonst Smartphone-freie Zeiten: Einer meiner Freunde lässt sein Handy beispielsweise zuhause, wenn er mit dem Hund spazieren geht. An manchen Tagen stelle ich mein Smartphone so ein, dass es nur noch über Wifi funktioniert. Bin ich unterwegs, bin ich komplett offline. Das bedarf zwar etwas Planung – ich muss mir den Weg vorher raussuchen und mein Zugticket am Automaten zu lösen – aber ich merke immer wieder, wie viel ruhiger ich mich fühle.

 

Es muss also nicht gleich der radikale «Digital Detox» sein?

Wer das kann und möchte, sollte unbedingt für ein paar Tage komplett offline gehen! Das hilft auch dabei, mit einem gewissen Abstand auf die eigenen digitalen Gewohnheiten zu blicken. Man sollte diesen Schritt aber gut planen: Nehmen Sie sich eine Woche frei, entscheiden Sie sich für einen Ort, an dem Sie sich wohlfühlen. Wer soziale Kontakte braucht, bucht besser ein Yoga-Retreat statt der einsamen Berghütte. Informieren Sie Ihr Umfeld, schalten Sie eine Abwesenheitsmeldung ein und passen Sie Ihren Whatsapp-Status an. Hinterlassen Sie eine Nummer, auf der Sie in dringenden Fällen erreichbar sind. Das kann die Nummer vom Hotel sein oder aber Sie packen ein Handy ein, das nichts anderes kann als telefonieren. So sind Sie komplett offline, aber im Notfall doch erreichbar. 

 

Und wie gelingt es im Alltag, unsere neuen Gewohnheiten beizubehalten? 

Indem man sich feste Strukturen schafft. Am besten melden Sie sich in einem Verein an oder suchen sich ein Hobby, bei dem Sie jede Woche einen fixen Termin haben. Sie können einen Töpferkurs besuchen, einen Buchclub gründen oder Freiwilligenarbeit leisten. Das schafft Verbindlichkeit. Sprechen Sie ausserdem mit Ihrem Umfeld darüber, wie Sie kommunizieren möchten. Mögen Sie lieber Sprachnachrichten oder Textnachrichten? Erhalten Sie lieber eine lange Message oder mehrere kurze? Antworten Sie sofort oder brauchen Sie meistens ein paar Tage? Oft ist das Problem weniger das Smartphone selbst, sondern vielmehr, dass uns der Rahmen dazu fehlt, wie wir digital verfügbar sein wollen. Wenn wir klare Regeln schaffen, gelingt es uns besser, uns abzugrenzen.

 

Gilt das auch im Job?

Auf jeden Fall. Wenn Ihnen ein Arbeitskollege am Sonntag schreibt, dann sagen Sie ihm, dass Sie das nicht in Ordnung finden. Stossen Sie auch in Ihrem Team die Diskussion an: Sagen Sie, dass Ihnen aufgefallen ist, dass es keine klaren Regeln gibt und dies Unsicherheit schafft. Fragen Sie sich auch, ob es sinnvoll ist, fünf Zoom-Meetings zum selben Thema abzuhalten? Wäre es nicht effizienter, eine Retraite zu machen – ganz altmodisch mit Stiften und Flipcharts? Und wäre es nicht respektvoller, wenn das Handy bei Sitzungen in der Tasche bleibt und wir einander wirklich zuhören würden? 

 

Sie schreiben in Ihrem Buch, dass wir darüber auch als Gesellschaft diskutieren müssten. 

Ja, denn schlussendlich geht es überall um dieselbe Frage: Wie viel Raum wollen wir dem Digitalen in unserem Leben geben? Wir sollten Orte schaffen, in denen wir uns bewusst und ohne Ablenkung begegnen. Und wir sollten miteinander klären, wie verfügbar wir sein wollen. So gelingt es uns dann auch besser, eine echte Balance zu schaffen.
 

 

Anna Miller (*1987) ist Journalistin, Autorin und Expertin für digitale Achtsamkeit. Sie hat einen Master-Abschluss in Positiver Psychologie und schreibt regelmässig über Gesellschaftsthemen. Mit ihrem Buch «Verbunden» liefert sie praktische Tipps für einen achtsamen Umgang mit Social Media & Co. Als Gründerin des Digital Balance Labs unterstützt Miller Privatpersonen, Unternehmen und Institutionen auf dem Weg zu mehr digitaler Balance. www.anna-miller.ch 

 

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