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Cocooning
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Hygge. Die neue Heimeligkeit.

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4 Min.

Social Cocooning

Eine neue Sehnsucht nach Miteinander, Unbeschwertheit, Gemütlichkeit und Vertrauen prägt das zunehmende Interesse der Menschen nach Social Cocooning. Statt Egozentrismus und Ausgehkultur stehen Wir-Gefühl und Wohlfühlort im Vordergrund.

Heute schon gekuschelt?

In einer zunehmend unverbindlichen, virtuellen und schnellen Welt steigt die Sehnsucht nach wirklicher Empathie, ehrlicher Kommunikation und authentischem Kontakt in ungezwungener Atmosphäre. Dieses neue Miteinander wird unabhängig von Einkommen, aber auch von Alter, Geschlecht oder Herkunft gepflegt. Es ist ein Rückzug in die Heimeligkeit, der einfach und unkompliziert umgesetzt werden kann, was ihn auch so ungemein attraktiv macht. Cocooning, also der Rückzug in die eigenen vier Wände, wird zum sozialen Resonanzraum.

Nach einer intensiven Zeit, in der Menschen wenig bei sich und auch wenig im analogen Face-to-Face-Kontakt miteinander waren, hat die Welle der Achtsamkeit dazu geführt, dass das Ich aus dem In-sich-Suchen hinaustritt und wieder echte Resonanzmomente im Wir sucht. Basis ist hierfür ein Ort, der Heimat vermittelt.

Lagerfeuer des 21. Jahrhunderts

Social Cocooning ist eine neue Lagerfeuermentalität, deren Kern ein auf Kontakt basierendes Zusammentreffen von Menschen in entspannender Wohnzimmeratmosphäre ist. Die Aktualität des Social Cocooning zeigt sich unter anderem in der Liste der «Wörter des Jahres 2016» des britischen Wörterbuchs Collins («Top 10 Collins Words of the Year 2016», collinsdictionary.com, HarperCollins Publisher).

Social Cocooning als Resonanzphänomen auf ein unsicheres Weltgefühl

Social Cocooning kann als eine Antwort auf diese sich im Wandel befindende politische und ökonomische Weltsituation betrachtet werden. Wie so oft bei sozialen Trendphänomenen begann es mit einem Food-Trend. Menschen begannen sich jenseits der wachsenden Ausser-Haus-Kultur mit ihrem Überangebot an Food Trucks und Gastronomie alternativ auf den kreativen und gemeinschaftlichen Prozess des Essenzubereitens zu konzentrieren. Küchen als Treffpunkt haben seit jeher etwas Heimeliges, in dessen Rahmen im 21. Jahrhundert das nachinszeniert wird, was man gemeinhin unter Grossfamilie versteht oder idealisiert. Social Cocooning geht über solche «Familien»-Events hinaus, es ist mehr die Sehnsucht nach dem «Tribe», all jenen Zusammenschlüssen, die Halt geben, Gehör schenken, Verbindung ermöglichen.

Social Cocooning ist das neue Miteinander

Doch Social Cocooning geht weit über Kaminfeuer, Kerzen, Guetsli oder Brot backen und Stricken hinaus. So wenig es ausschliesslich ein Food-Trend ist, so wenig ist es ein reines Thema der Wohnkultur. Das gemeinsame Element ist stets eine Verbindung zum Gegenüber, die mehr ist als ein zufälliges Beisammensein. Das gemeinsame Moment beim Social Cocooning erfordert nicht zwangsläufig Kommunikation, es geht um ein Miteinander, das auch stumm verbinden und für Resonanz sorgen kann.

Auch Slow Reading Clubs, die sich regelmässig in Cafés treffen, einfach, um gemeinsam zu lesen, können als eine in der Öffentlichkeit stattfindende Social-Cocooning-Aktivität verstanden werden. Man bringt das Buch mit, das man gerade lesen möchte. Die aus Neuseeland stammende Idee, gemeinsam, ohne Ablenkung zu lesen, statt E-Mails zu checken oder auf Facebook zu surfen, stösst mittlerweile international auf Nachahmer (slowreadingco.com).

Social Cocooning ist kein Technikfeind

Konnektivität ist selbstverständlicher Bestandteil des Social Cocooning. Gerade erst die modernen Technologien machen unsere vier Wände zu dem Ort, an dem wir mit der Umwelt in Kontakt treten können. Und so machen auch die steigende Mobilität der Gesellschaft und das Unterwegssein das Phänomen des Social Cocooning interessant. Der Wunsch der Menschen nach einem Eintauchen in eine bereits existierende soziale Gruppe, die nicht erst mühsam aufgebaut werden muss, in der durch Bewertungen und Rezensionen ein neues Vertrauen entgegengebracht werden kann, wird zum Schlüssel der Rezensionsgesellschaft und ihrer Sehnsucht nach «sozialem» Ankommen. Und das weltweit, an Orten, an denen man zuvor noch nie war. Der Erfolg von Airbnb, Co-Living- und Co-Working-Angeboten zeigt, wie Konnektivität und Realkontakt harmonieren.

Das Cocooning der Zukunft

Im Gegensatz zu importierten Begriffen wie «Hygge*», die Gefahr laufen, von Marketing und Medien instrumentalisiert zu werden, lässt sich «Social Cocooning» in seinem fundamentalen Bedürfnis nach Gemeinschaftsgefühl erklären. Es geht um einen bewussten, kreativen Umgang mit Dingen, Menschen und Situationen, die eingebunden in ein starkes soziales Element sind. Für die Zukunft der Gesellschaft sind jene funktionierenden Mikrogemeinschaften notwendig, in denen das Individuum einen Platz findet, um Abstand vom Alltag zu gewinnen und gleichzeitig – unabhängig davon, ob es sich um extrovertierte oder introvertierte Persönlichkeiten handelt – im Miteinander die eigenen Batterien wieder aufladen kann.

Social Cocooning wird künftig weiter an Popularität gewinnen, da es zum einen so einfach umzusetzen ist, und zum anderen die aktuellen gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen den Trend befeuern: Natürlich trägt auch eine als bedrohlich empfundene Öffentlichkeit dazu bei, dass die Menschen sich ins Private zurückziehen.

Aus der Studie «Die neue Achtsamkeit«, Zukunftsinstitut.de | Anja Kirig

 

* aus dem dänischen, «Gemütlichkeit, Herzlichkeit, Gemeinsamkeit. Siehe auch visitdenmark.de

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