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Die geschlechtsspezifische Sicht auf psychische Erkrankungen

Die Psyche der Männer
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Die Psyche der Frau. Und des Mannes.

Gibt es frauen- oder männerspezifische psychische Erkrankungen? Sind Frauen häufiger betroffen als Männer oder sind die Erkrankungen unterschiedlich? Die geschlechtsspezifische Sicht auf psychische Erkrankungen aus der Sicht von Dr. Joe Hättenschwiler (Zentrum für Angst und Depression Zürich ZADZ).
 

«Feurige Augen wie eine Viper, schwarzes Blut und ein ungezügeltes Verhalten wie Tiere: das sind melancholische Männer. Schwermütige Frauen hingegen haben ein wenig widerstandsfähiges Naturell, klagen über Kopfleiden und Rückenschmerzen.»

 

Hildegard von Bingen, 1098–1179

Hildegard
Hildegard von Bingen, hier aus dem Film «Vision» mit Barbara Sukowa in der Hauptrolle
(© Zeitgeist Films by Margarethe von Trotta)

 

Frauen leiden, so die volkstümliche Wahrnehmung, häufiger an psychischen Störungen als Männer. Es gibt aber grundsätzlich auch verschiedene Aspekte der Erkrankungen von Frauen und Männern. So können hormonelle Veränderungen wie die prämenstruelle Zeit, Schwangerschaft, Wochenbett und Wechseljahre genauso wie weitere typisch weibliche Belastungen im Leben (Doppelbelastung Familie und Beruf, Alleinerziehende, Working Poor) Auslöser für eine Erkrankung werden. Bei den Männern sind diese Auslöser anders gelagert. Gesundheitspolitisch gesehen sind die Männer das «schwache Geschlecht»*:

  • Sterblichkeit von Männern in jeder Lebensphase höher
  • sie besuchen seltener den Arzt
  • sie sind häufiger krank
  • sie setzen sich mehr gesundheitlichen Risiken aus
  • sie haben ein geringeres Gesundheitswissen
  • sie geben weniger Geld für Fitness aus
  • Unsicherheit in ihrer männlichen Rolle.
Andere Einflüsse auf die Psyche

Aber: Es gibt auch andere Häufungen, andere Lebenskonstellationen, andere Symptome der jeweiligen Erkrankung. Und somit ist eine individuelle Behandlung für Männer und Frauen wie auch eine geschlechterspezifische Anpassung psychotherapeutischer und psychopharmokologischer Strategien gefordert. Auch der Unterschied zwischen dem biologischen und dem sozialen, «erlernten» Geschlecht spielen hier eine grosse Rolle.

Gender beeinflusst die Gesundheit

Körperbewusstsein, Gesundheitsverhalten, Krankheit und Tod sind generell unterschiedlich. Auch die Zahlen der einzelnen psychischen Erkrankungen sind deutlich verschieden: Während bei den meisten psychischen Krankheiten die Frauen häufiger erkranken als die Männer, sind bei der Alkoholstörung die Männer deutlich häufiger anzutreffen.

  • Depressionen, Angst- u. Essstörungen
    Frauen : Männer = 2 : 1

  • Medikamentenabhängigkeit
    Frauen : Männer = 3 : 1

  • Bipolare Störungen, Psychosen, Zwangsstörungen
    Frauen : Männer = 1 : 1

  • Alkohol-/Drogenabhängigkeit, dissoziative Persönlichkeitsstörungen
    Frauen : Männer = 1 : 2

Symptome variieren

Selbst bei den Symptomen der gleichen Erkrankungen sind die Ausprägungen nach Geschlecht unterschiedlich: Bei Depressionen berichten Frauen mehrheitlich über mehr Symptome inkl. emotionaler Auswirkungen wie zum Beispiel Weinen, sie haben mehr somatische Symptome, weniger Energie und mehr atypische Symptome wie Appetit- und Gewichtszunahme. Männer hingegen berichten über weniger Symptome, zeigen mehr psychomotorische Unruhe und Suizidgedanken, mehr Alkohol- und Drogenkonsum, Schlaflosigkeit, Ärger, Wut, Feindseligkeit und Aggression. Heisst zusammengefasst: Frauen «internalisieren» eher, sie ziehen sich zurück und haben mehr Angst/Panikstörungen oder Essstörungen, Männer «externalisieren» in Ärger, Wut, Aggression oder Alkoholexzessen.

Auch Männer haben Wechseljahre

Die Wechseljahre der Frau sind oft – hormonell bedingt – ein Auslöser für psychische Erkrankungen. Aber auch die Männer haben ein «Klimakterium» – die «Andropause», wenn durch die Abnahme der Testosteronproduktion im Alter verschiedene Symptome wie Lustlosigkeit, verminderte Erektion, Schlafstörungen, Ängstlichkeit, Gewichtszunahme usw. auftauchen.

Fazit

Es gibt keine genderspezifische psychische Erkrankungen. Aber: Es gibt durchaus andere Symptome, andere Häufungen, verschiedene Lebenskonstellationen. Und somit steht im Vordergrund, die psychischen Krankheiten generell zu entstigmatisieren, damit alle Betroffenen, unabhängig ihres Geschlechtes, zur richtigen Behandlung kommen.

 

* BZgA Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung 2016

 

«Männer habens’s schwer, nehmen’s leicht – aussen hart und innen ganz weich – werden als Kind schon auf Mann geeicht. – Wann ist ein Mann ein Mann?»

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