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Trend, Identität, Religionsersatz. Essen.

Essen als Religionsersatz
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Gesund, gesünder – am gesündesten

«Die Weizenwampe», «Dumm wie Brot», «Das Salz-Zucker-Fett-Komplott», «Clean Eating», «Kochen mit Superfoods» – so hallt es uns von den Bücherregalen entgegen. In schrillen Farben und mit reisserischen Titeln stehen diese Bücher in der Ernährungs-Abteilung der Buchhandlung. Auch in den Sozialen Medien schleudern uns Blogger, Fitnessgurus und andere Botschafter des gesunden Selbst die neusten Trends entgegen. Beim Abendessen mit Freunden werden die Ernährungstipps und -formen ausgetauscht. Vegan war gestern, heute sind Paleo und Rawfood aktuell oder sind auch die schon wieder out?

Gesundheit als Trend

Gesundheit liegt im Trend und wird immer mehr zum gesellschaftlichen Zwang. Aus dieser Logik folgt, dass die «gesunde» Ernährung mit einer Überzeugung missioniert wird, die man sonst nur bei der Religion antrifft. Wird die Gesundheit zum neuen Paradies?

Ernährung als Identität

Essen bzw. die speziellen Essgewohnheiten vermitteln Identität. Sie prägen die Gruppenbildung und definieren, wer dazu gehört und wer nicht. Die Sozialpsychologie spricht dabei von Ingroup- oder Outgroup-Bildung. Das Essen wird dabei zum Kernkriterium. Eingeweihte und Aussenseiter belächeln sich gegenseitig. Gleichzeitig werden auch innerhalb einer Gruppe die Essformen nochmals individualisiert: «Ich bin Veganer, aber ich lege das etwas eigen aus.» Damit wird die Ernährungsform als Mittel zur sozialen Abgrenzung benutzt.

Informationsdschungel

Durch den hohen Stellenwert der Trends gewinnt Ernährungswissen an Wichtigkeit. Die Ernährungsinformationen sind allgegenwärtig. Diese zu filtern, zu ordnen und bewerten ist ein Ding der Unmöglichkeit. Um auf dem Laufenden zu bleiben, wird fleissig gegoogelt, gescrollt, gelesen und diskutiert. Verpackungen werden genau unter die Lupe genommen, Codes gescannt, Supermärkte durchforstet. Soll man nun Weizen essen oder nicht? Macht jetzt dieser weisse Zucker krank oder war es die Fructose? Fett macht dick, aber da war doch noch das mit der Ketogendiät? Und gemäss «Clean Eating» sollte man Milchprodukte weglassen, aber diese waren doch wichtig für das Kalzium? Überforderung pur! Der Kern dieses Problems liegt in Fehlinformationen, in Verbreitung von Halbwissen und Fehlinterpretationen. Dies kann Ängste auslösen.

Die Extreme

Das Extrem eines Gesundheitswahns ist die Orthorexia Nervosa, die ausgeprägte Fixierung auf die Auswahl von «gesundem» und der Vermeidung von «ungesundem» Essen. Betroffene setzen sich sehr intensiv bis obsessiv mit der Ernährung auseinander, treiben intensive Recherchen mit dem Wunsch, sich möglichst gesund ernähren zu können. In abgeschwächter Form kennen dieses Verhalten bereits einige. Doch die übertriebene Beschäftigung mit dem Thema löst Stress aus und verkrampft. Die Angst vor der «Sünde» und die Sorgen um die eigene Gesundheit sind belastend und können zu einem negativen Körperbezug führen.

Mögliche Ansätze: Entspannter Umgang mit Gesundheit

1. Gesundheit ist nicht statisch

Es ist sinnvoll sich von einem Dogma der statischen Gesundheit zu lösen. Gesundheit ist in unserem Leben fliessend, ganz nach Antonovsky (1987), ein Fluss. Mal sind wir etwas gesünder, mal liegt ein Fels im Weg. Dieses Konstrukt darf kein Gesellschaftsdogma sein, kein Kriterium und kein Ideologie-Ersatz, den es zu erreichen gilt.

2. Vielfalt und Genuss

Vielfalt mit Genuss zu zelebrieren, ist eine der wichtigsten Faktoren für unser Wohlbefinden und eine ausgewogene Ernährung. Es braucht Freude an der Vielfalt, an Lebensmitteln, am Handwerk, am Essen und an der Auswahl.

3. Lockerheit und Entspannung im Umgang mit Informationen

Offene Augen, eine kritische Haltung und eine Prise Humor helfen, den Bezug zum Essen zu entspannen und den Genuss zu zelebrieren. Schöne Fotos verschiedener Speisen inspirieren. Dem Essen einen Wert beizumessen und dieses nicht nur als notwendigen Nahrungslieferanten zu sehen, unterstützt den Genuss und ist nicht per se als schlecht zu bewerten. Vielleicht steigert sich sogar unser Bewusstsein für das Essen, wenn wir dieses fotografieren und auf Social Media-Kanälen posten. Es ist viel wichtiger, den Genuss am Essen zu proklamieren, als Ängste zu schüren, über ungesunde Ernährung zu sprechen oder Lebensmittel an den Pranger zu stellen. Eine gewisse «Take it easy»-Haltung ist wichtig und entspannt die Gemüter.

Dazu ein weiterer Artikel: «Chill’s mal!»

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